Saarbrücker Erklärung der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern
09.06.2016, 16:52 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell)
Das 51. Treffen der Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) fand - auf Einladung des saarländischen Behindertenbeauftragten Wolfgang Gütlein – am 7. und 8. Juni 2016 in Saarbrücken statt.
Die Behindertenbeauftragten tragen dazu bei, die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu fördern und ihre Lebenssituation zu verbessern. Sie begleiten die aktuellen behindertenpolitischen Debatten mit konstruktiver Kritik.
Die Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten erwarten, dass menschenrechtliche Erwägungen jeden weiteren Schritt zur vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen bestimmen.
Sie haben die folgende „Saarbrücker Erklärung“ beschlossen:
Bundesteilhabegesetz:
Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz –BTHG) sieht Neuregelungen für Menschen mit Behinderungen vor, die dazu beitragen sollen, ihre Selbstbestimmung und Teilhabe zu fördern und ihre Lebenssituation zu verbessern.
Die Bundes- sowie die Landesbehindertenbeauftragten begrüßen neben der erklärten Zielsetzung des Referentenentwurfs ausdrücklich:
– Die Einführung der Möglichkeit einer unabhängigen Beratung,
– Die gesetzliche Verankerung des Budgets für Arbeit,
– Die Schaffung von Alternativen zur Werkstatt für Menschen mit Behinderungen,
– Die Einführung von Frauenbeauftragten in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen
– Die Aufnahme eines besonderen Merkzeichens für taubblinde Menschen
Das Kernstück des Entwurfs, das neue Recht der Eingliederungshilfe, erfüllt in seiner vorgesehenen Konzeption jedoch nicht die im Koalitionsvertrag vereinbarte Modernisierung des Rechts der Eingliederungshilfe im Sinne einer Weiterentwicklung des Rechts auf der Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention.
Nachdrücklich unterstützen die Bundes- und die Landesbehindertenbeauftragten die sechs Kernforderungen des Deutschen Behindertenrates (DBR) und anderer Organisationen und fordern für mehr Selbstbestimmung:
– Die Wunsch- und Wahlrechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken und nicht einzuschränken.
– Einkommen und Vermögen nicht mehr heranzuziehen.
– Ein deutliches NEIN zu Leistungskürzungen und – einschränkungen.
– Ein Verfahrensrecht, das Leistungen zügig, abgestimmt und wie aus einer Hand für Betroffene ermöglicht und nicht hinter erreichte SGB IX-Gesetzesstandards zurückfällt.
– Mehr Teilhabe- und Wahlmöglichkeiten im Arbeitsleben.
– Betroffenenrechte nicht indirekt, z.B. über schlechte finanzielle und vertragliche Rahmenbedingungen für Anbieter, zu beschneiden.
Der anspruchsberechtigte Personenkreis darf keinesfalls gegenüber der bisherigen Eingliederungshilfe eingeschränkt werden.
Behindertengleichstellungsgesetz:
Der Bundestag hat am 12. Mai 2016 die Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes beschlossen und begrüßt:
– die Anpassung des Behinderungsbegriffs an die UN-Behindertenrechtskonvention
– die Stärkung des Benachteiligungsverbots
– die Einrichtung einer Bundesfachstelle für Barrierefreiheit und einer Schlichtungsstelle bei der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
– Verbesserung bei der leichten Sprache
– die Einrichtung eines Fonds zur finanziellen Förderung der Partizipation der Verbände von Menschen mit Behinderungen
Allerdings bedauern die Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten, dass der Bundesgesetzgeber bei der Novellierung die große Chance vertan hat, private Anbieter von Dienstleistungen und Produkten gleichfalls zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Arztpraxen, Supermärkte, Kaufhäuser, Taxis, Restaurants u.a. und das Internet (z.B. Online-Informationsportale bzw. Online-Zeitungen) müssen ebenfalls barrierefrei sein. Die Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten fordern mit dieser Erklärung ausdrücklich, dass die Verpflichtung privater Anbieter zur Barrierefreiheit von Dienstleistungen, Produkten und dazugehöriger Infrastruktur geregelt werden muss.
Dieses Ziel kann erreicht werden mit der Annahme der Fünften Antidiskriminierungsrichtlinie der EU aus dem Jahr 2008. Die Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten fordern die Bundesregierung auf, in den wiederanlaufenden Verhandlungen ihre Blockadehaltung aufzugeben.
Zu weiteren Themen haben die Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten sich wie folgt geäußert:
Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ (sog. Heimkinderfonds):
Die Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten fordern erneut, dass endlich eine Entschädigung für diejenigen, die als Kinder und Jugendliche von 1949-1975 (bis 1990 in der DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder stationären psychiatrischen Einrichtungen Unrecht und Leid erfahren haben, auf den Weg gebracht wird. Sie erwarten, dass Bund, Länder und Kirchen konsequent zu ihrer Verantwortung stehen und die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ zügig auflegen. Dabei ist eine Gleichstellung im Sinne einer gleich hohen Entschädigungszahlung und der Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen unbedingt zu gewährleisten. Es darf keine Entschädigung „2.Klasse“ geben.
E-Scooter:
Elektro-Scooter (gen. E-Scooter) sind Mobilitäts-Hilfsmittel für den Straßenverkehr. Bundesweit fehlen aber verbindliche Regelungen zur Mitnahme von E-Scootern. Die Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten fordern, bundeseinheitliche Regelungen zu erarbeiten.
Barrierefreies Wohnen:
Deutschland braucht mehr barrierefreien - und bezahlbaren - Wohnraum. Die Behindertenbeauftragten fordern den Ausbau von barrierefreien und rollstuhlgerechten Wohnungen. Sie begrüßen entsprechenden Novellierungen von Landesbauordnungen mit Regelung zu barrierefreien Wohnungen.
Die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern fordern Bund, Länder und Kommunen auf, den sozialen Wohnungsbau zu intensivieren und die Schaffung barrierefreien Wohnraums als Fördervoraussetzung und im Planungsrecht zu regeln.