Rede von Regierungschef Tillich bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus

27.01.2014, 11:11 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell)

Ansprache von Stanislaw Tillich, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, anlässlich der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2014 im Sächsischen Landtag

Es gilt das gesprochene Wort!

Was machen wir ab morgen - und an all den folgenden Tagen, die nicht offizielle Gedenktage sind - bis zum nächsten Jahr?

Ich möchte diese Frage, die Sie - verehrter Herr Landtagspräsident - gestellt haben, aufgreifen. Diese Frage hat es in sich, denn sie formuliert die Verpflichtung, die uns aus dem 27. Januar - dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus - erwächst. Diese Frage hat es in sich, denn sie verlangt nach einer Antwort, wenn wir uns der Verantwortung unserer Geschichte stellen und ihr gerecht werden wollen. Und diese Frage hat es in sich, weil sie eigentlich eine Aufforderung ist - an jeden einzelnen von uns.

Ich möchte kurz auf diese drei Dimensionen der Frage eingehen.

Jedes Jahr fordert uns dieser Tag aufs Neue heraus, Worte zu finden, um der Opfer der Shoa zu gedenken. Und wir müssen dabei immer wieder feststellen: es gibt kaum Worte dafür. Aber darüber schweigen können wir nicht, und verschweigen dürfen wir nicht!

Vielmehr ist es unsere Verpflichtung, nicht nachzulassen in dieser Suche nach Worten, weil sie immer wieder der Anstoß ist, sich auseinanderzusetzen mit den Gräueln und der Barbarei der NS-Zeit und dem unfassbaren Leiden der Opfer. Das fällt schwer. Und das tut weh. Damit wir nicht ausweichen oder bequem werden, braucht es Anlässe, die wiederkehren.

Anlässe, die aufrütteln, damit wir nicht stumpf werden. Wir brauchen Anlässe, die verhindern, dass das Vergessen mit der Zeit größer wird. Der Tag der Befreiung der Überlebenden im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 ist so ein Anlass.

Er erinnert uns immer wieder daran, das Erinnern nicht zu vergessen.

Wir dürfen aber nicht beim Erinnern stehen bleiben.

Wir müssen auch den nächsten Schritt tun: So wie das Erinnern unsere Verpflichtung ist, so liegt das Handeln in unserer Verantwortung. Für mich ist Gedenken immer beides: Erinnern und Handeln.

Wir sollten das Begreifen nicht nur dem Verstand überlassen, sondern auch Herz und Hände mitnehmen, und uns zum Handeln ermutigen lassen. Der eigentliche Anstoß ist oft ein ganz kleiner. Und daraus werden immer wieder Beispiele, die uns zeigen, wie der Schritt vom Begreifen zum Tun gelingen kann.

Ein Beispiel geben uns der Dresdner Kammerchor und der Jugendchor der Evangelischen Schulgemeinschaft Annaberg-Buchholz mit ihrem heutigen Auftritt. Ihr gemeinsames Gedenk-Konzert ist eben beides: Erinnern und Tun. Für sie ist das jüdische Erbe in der Musik selbstverständlicher Bestandteil europäischer Kultur und zwar in Geschichte und Gegenwart. Ihre Aufführung verhindert das Vergessen, weil so das Wissen von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Vor zwei Wochen hat die Stadt Freiberg Michael Federmann mit der Ehrenbürgerwürde ausgezeichnet. Die Familie Federmann wurde in der NS-Zeit ihrer sächsischen Wurzeln beraubt. Sein Vater Yekutiel Federmann - ein gebürtiger Chemnitzer - musste Deutschland 1936 verlassen. Nach der deutschen Einheit ist er 1995 wieder zurückgekehrt ― nach Sachsen, als erster israelischer Unternehmer in der Industrie der neuen Bundesländer. Dieser Schritt war mutig, weil er dem Schicksal, das die eigene Familie erlitten hat, widersprach.

Was aus einem persönlichen Impuls begann, hat inzwischen eine eigene Dynamik entfaltet.
Es war Yekutiel Federmann, der die Städtepartnerschaft zwischen Freiberg und Ness-Ziona angeregt hat.

Sie lebt aus einem Schüleraustausch und der Shalom-Woche, die alle zwei Jahre Begegnung und Austausch ermöglicht. So wurde aus einer mutigen Rückkehr
eine neue sächsisch—israelische Partnerschaft.

Umgekehrt engagieren sich Sachsen und der Freistaat in Israel. 2010 wurde die Restaurierung des Kaisersaales der Auguste-Victoria-Stiftung an der Himmelfahrtskirche auf dem Jerusalemer Ölberg abgeschlossen.

Ein denkmalpflegerisches Konzept der Kulturstiftung Leipzig war eine Grundlage dafür. An der Sanierung haben sich viele engagierte sächsische Handwerker beteiligt. Und den Radleuchter stiftete der Freistaat.

Mit diesem Saal hat die Auguste-Victoria-Stiftung einen Raum wiedergewonnen. Ihr Pilger- und Begegnungszentrum leistet einen Beitrag zu kulturellem und religiösem Verstehen und Verständigung.

Verstehen ― darum geht es auch in Yad Vashem. Sie ist die Gedenkstätte, die an die nationalsozialistische Judenvernichtung erinnert, und sie wissenschaftlich dokumentiert.
Wer schon einmal in Yad Vashem war, der weiß, dass ein Besuch den ganzen Menschen bewegt. Und dennoch braucht es die Erläuterungen, die von den Grausamkeiten und dem Leid der Opfer berichten. Der deutschsprachige Audio-Guide wurde 2004 vom Freistaat Sachsen unterstützt.

Das eigentlich Besondere daran ist für mich, dass dies eine Bitte des Yad-Vashem-Direktors für die deutschsprachigen Länder - Arik Rav On - war. Diese Bitte setzt Maßstäbe der Verständigung.

Ein Zeichen für Verständigung und Toleranz setzte auch die Ausstellung „BESA ― ein Ehrenkodex“, die 2012 unter anderem in der Dreikönigskirche in Dresden zu sehen war.
Auch sie war eine Anregung von Arik Rav On! Gezeigt wurden zwölf Porträts von albanischen Muslimen, die während der Shoa in höchster eigener Gefahr Juden vor dem Tod bewahrten.

Diese Ausstellung machte mit ihren Fotos auf so unmittelbare Art und Weise verständlich, dass Mitmenschlichkeit und Toleranz keine Frage von Hautfarbe, Religion oder Herkunft sind.

An diesem Tag darf ein letztes Beispiel nicht fehlen: Der MDR zeigt heute Abend eine Dokumentation. Wir können nachher eine Vorpremiere sehen. Der Landtagspräsident hat darauf hingewiesen. Der Film zeigt Yudit Herschkowitz, die den Todesmarsch von Auschwitz überlebte und die jetzt in Israel lebt. Sie sagt von sich selbst, dass sie eigentlich nie wieder Deutsch sprechen oder Deutsche in ihre Wohnung lassen wollte. Und der Film zeigt sächsische Handwerker des Vereins der Sächsischen Israelfreunde, die in ihrem Urlaub ehrenamtlich die Wohnung von Yudi Herschkowitz renovieren.

Diese Geste der Versöhnung fordert viel, von den Holocaust-Überlebenden und den Helfern.
Aber genau deshalb ist sie ein so starkes Signal.

Diese Beispiele zeigen, wie aus Begreifen Handeln werden kann.

Es sind einzelne Initiativen. Oder es sind bewusst gesetzte Zeichen des Freistaates im Namen aller Sachsen. Es ist klar, dass nicht jeder jeden Tag solche Zeichen des Verstehens, der Verständigung oder der Versöhnung setzen kann. Aber wenn jeder von uns an einem Tag über das Jahr hinweg eine Antwort - seine Antwort - gibt, dann ist die Summe der Antworten groß.

Als Bundespräsident Roman Herzog 1996 den 27. Januar zum Gedenktag machte, erklärte er sein Ziel so: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“

Die Gefahr einer Wiederholung bleibt dann gebannt, wenn in den Köpfen und Herzen klar ist, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist. Das bedeutet, dass für Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus kein Platz ist.

Deshalb darf uns der Tag, an dem die Überlebenden in Auschwitz-Birkenau 1945 befreit wurden, nicht in Ruhe lassen.

Wir brauchen den 27. Januar als Mahnung, damit er uns immer wieder an das Erinnern erinnert; damit er uns immer wieder eine Antwort abverlangt; und damit er uns immer wieder zum Handeln auffordert.


Kontakt

Sächsische Staatskanzlei

Regierungssprecher Ralph Schreiber
Telefon: +49 351 564 10300
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