Gleichstellungsministerin Katja Meier stellt die erste sachsenweite »Dunkelfeldstudie zur Viktimisierung von Frauen durch häusliche Gewalt, Stalking und sexualisierte Gewalt« vor

06.04.2023, 11:00 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell)

Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen ist eine Menschenrechtsverletzung – und sie kommt tagtäglich in allen gesellschaftlichen Schichten vor, in allen Altersgruppen – auch in Sachsen.

Um belastbare Zahlen zur Situation von gewaltbetroffenen Frauen in Sachsen zu erheben, hat das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung (SMJusDEG) die »Dunkelfeldstudie zur Viktimisierung von Frauen durch häusliche Gewalt, Stalking und sexualisierte Gewalt« (VisSa-Studie) in Auftrag gegeben. Am Donnerstag, den 6. April, stellte Gleichstellungsministerin Katja Meier gemeinsam mit dem Projektleiter der Studie, Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, Hochschule Merseburg, die Ergebnisse dieser ersten sachsenweiten Erhebung vor.

Gleichstellungsministerin Katja Meier: »Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen ist kein Randphänomen. Die blanken Zahlen sprechen da für sich. Wir sehen das in der aktuellen Kriminalitätsstatistik und das zeigen uns auch schon vorhergegangene Studien anderer Bundesländer. Ich bin sehr froh, dass wir nun erstmals konkrete Zahlen haben für Sachsen und damit Licht ins Dunkel bringen können. Diese Studie ist eine wichtige Grundlage, um präventiv zu arbeiten und Maßnahmen zu entwickeln, mit denen wir gezielt auf die Bedarfe von Menschen eingehen können, die von häuslicher oder sexualisierter Gewalt oder Stalking betroffen sind.«

Seit Februar 2018 ist das »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«, kurz Istanbul-Konvention, geltendes Recht in Deutschland. Mit dem aktuellen Koalitionsvertrag hat die sächsische Staatsregierung diesen Auftrag angenommen, bedarfsgerechten Schutz für jene bereitzustellen, die in besonderem Maße geschlechtsspezifische Gewalt erfahren.

Gleichstellungsministerin Katja Meier: »In Umsetzung der Istanbul-Konvention entwickelt die Staatsregierung derzeit einen Landesaktionsplan zur Verhütung und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, aufbauend auf dem gültigen Landesaktionsplan zur Bekämpfung häuslicher Gewalt. Auch nicht-staatliche Akteurinnen und Akteure wirken am Beteiligungsprozess mit, um gemeinsam mit uns auf Landesebene Maßnahmen für die nächsten sechs Jahre zu erarbeiten. Der Landesaktionsplan soll im 4. Quartal dieses Jahres beschlossen werden, und in diesen Prozess fließen natürlich auch die Ergebnisse der vorliegenden Viktimisierungsstudie ein. Sie untermauert sehr klar, welche Bedarfe beim Schutz- und Hilfesystem noch vorhanden sind. Und wir als Staatsregierung wollen diese Bedarfe natürlich erfüllen.«

Die Hochschule Merseburg hatte sich mit ihrer Forschungsexpertise auf dem Feld der geschlechtsspezifischen Gewalt für die Studie qualifiziert und führte diese durch. Die Ergebnisse dieser ersten allein für den Freistaat Sachsen angefertigten Studie belegen unter anderem: Neun von zehn befragten Frauen haben bereits mehrfach Hinterherpfeifen, aufdringliche Blicke, als unangemessen empfundene Sprüche und Ähnliches erlebt. Sexualisierte Gewalt in Form von Zwang zu sexuellen Handlungen erlebten 30 Prozent der Studienteilnehmerinnen, den Versuch, sie zu sexuellen Handlungen zu zwingen bereits mehr als die Hälfte. Die Täter waren fast ausschließlich Männer, der Tatort meist das eigene Wohnumfeld. 45 Prozent der Befragten erfuhren häusliche Gewalt auf psychischer Ebene und 35 Prozent auf körperlicher Ebene. Etwa jede dritte Befragte hat partnerschaftlich körperliche und/oder sexuelle Übergriffe erfahren. Wenn Kinder in der Beziehung vorhanden sind, richtet sich in der Hälfte der Fälle Gewalt auch gegen sie. 40 Prozent der Studienteilnehmerinnen haben Erfahrung mit Stalking. Aber nur knapp ein Drittel der von Gewalt Betroffenen nimmt professionelle Hilfe, beispielsweise durch Therapeuten, in Anspruch. Gleich an zweiter Stelle liegen Fachberatungsstellen. Die Anzeigequote liegt je nach Tat zwischen vier und 13 Prozent. Insbesondere bei sexuellen Übergriffen, aber auch bei Stalking und häuslicher Gewalt ist damit von einem sehr großen Dunkelfeld auszugehen.

Befragt wurden in der Zeit vom 16. Mai 2022 bis 1. Oktober 2022 in Sachsen lebende Frauen ab 16 Jahren. Ausgewertet wurden 1.341 online ausgefüllte Fragebögen. Das Alter der Teilnehmerinnen liegt in der Spannweite von 16 bis 74 Jahren. Dabei ist die mittlere Altersgruppe von 31 bis 40 Jahren besonders stark vertreten. Zusätzlich führten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Hochschule Merseburg qualitative Interviews mit Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte und mit Frauen mit Behinderung. Die Ansprache der Teilnehmerinnen erfolgte gezielt über die Landkreise, in Zeitungen und Zeitschriften, über Werbung im ÖPNV und über Verbände in Sachsen. Entsprechend konnten in größerem Maß auch ältere Personen teilnehmen.

Studienleiter Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß: »Forschung im Bereich Sexualwissenschaften ist stets durch höhere Hürden bei der Befragung geprägt. Denn es geht um intime persönliche Erfahrungen. Wenn zusätzlich nach gewaltvollen Erfahrungen gefragt wird, erschwert sich der Zugang zu Betroffenen erneut. Aus diesem Grund stellt sich eine anonyme Online-Befragung als günstigstes Befragungsinstrument dar. Gleichwohl ist uns bewusst, dass bestimmte Zielgruppen noch besser zu erreichen sind, wenn sie von einer geeigneten Person in ihrem vertrauten Umfeld persönlich befragt werden. Deswegen haben wir die ergänzende qualitative Erhebung durchgeführt. Durch sie haben wir vertiefende Erkenntnisse für Frauen mit Migrationserfahrung und Frauen mit Behinderung erlangt.«

Hintergrund

Die polizeiliche Kriminalstatistik erfasst für das Jahr 2022 927 Frauen als Betroffene von Stalking und knapp 300 weibliche Opfer von Vergewaltigung, Nötigung und besonders schwerwiegenden sexuellen Übergriffen. Ein großer Teil der Übergriffe taucht jedoch nie in der Statistik auf, weil sie nicht angezeigt und damit nicht verfolgt werden – oftmals aus Scham oder Angst der Betroffenen, nicht ernst genommen zu werden.

Derzeit werden Maßnahmen im Bereich des Gewaltschutzes in Bezug auf Frauen auf Grundlage von Studien entwickelt, deren Ergebnisse vor mehr als 17 Jahren gewonnen wurden oder alternativ auf Grundlage der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik. Hier wiederum werden jedoch lediglich die Straftaten erfasst, welche durch Anzeigen oder durch eigene Ermittlung den Behörden zur Kenntnis gelangt sind. Je nach Deliktart steht diesem sogenannten »Hellfeld« von angezeigten Vorfällen ein unbekanntes »Dunkelfeld« gegenüber

Damit die nötigen Hilfs- und Beratungsstrukturen geschaffen beziehungsweise ausgebaut werden können, ist es unabdingbar, darüber Bescheid zu wissen, wie häusliche und sexualisierte Gewalt entsteht und wie viele Menschen von ihr betroffen sind.


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