Rede von Ministerpräsident Tillich beim Festakt "25 Jahre Friedliche Revolution" in Leipzig

09.10.2014, 12:00 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell)

Grußwort von Stanislaw Tillich, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen,
beim Festakt anlässlich des Erinnerns an 25 Jahre Friedliche Revolution
am 9. Oktober 2014 im Gewandhaus zu Leipzig

– Es gilt das gesprochene Wort –

Anreden

„Für ein offenes Land mit freien Menschen“ heißt ein Buch über die Friedliche Revolution. Darin findet sich ein bemerkenswerter Quellentext. Der Lagebericht der Bezirksdirektion der Volkspolizei Leipzig hält für den Abend des 9. Oktober 1989 folgendes fest:
„20:33 Uhr: Bahnhof wieder geöffnet, Straßenverkehr läuft normal, ca. 300 Personen im Bereich Goethestraße, die mit Angehörigen der dort stationierten Kampfgruppen Diskussionen führen, 20.35 Uhr: Im Bereich Fußgängerüberweg gegenwärtig noch ca. 150 Personen, gegen 20.25 Uhr wurde dort ein Feuerwerkskörper gezündet.“

So nüchtern beschreibt der Polizeibericht, wie die dramatischen Stunden der Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 endeten. Das klingt nicht nach dem, was wirklich geschah: Mit Kerzen in den Händen und Hoffnung im Herzen standen 70.000 Demonstranten einem hochgerüsteten Sicherheitsapparat gegenüber und mussten befürchten, niedergeknüppelt und zusammengeschossen zu werden.
Der nüchterne Polizeibericht klingt auch nicht nach den entscheidenden Stunden der Friedlichen Revolution. Den Stunden, so beschrieb es der Dresdner Bischof Joachim Reinelt, nach denen die Angst die Seiten wechselte. Die Angst war nach dem friedlichen Demonstrationszug der 70.000 in Leipzig nicht mehr unter den Demonstranten. Sondern es ängstigten sich zunehmend all jene, welche bisher als Unterdrücker die Diktatur der SED möglich gemacht hatten. Sie ängstigten sich, wissen wir heute, zu Unrecht.

Denn die selbstermächtigten Bürger, über die sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, eben gesprochen haben, gingen für Freiheit und Demokratie auf die Straßen. Es war, so hat es der Bürgerrechtler Arnold Vaatz trefflich ausgedrückt, eine Revolution ohne Rache. Für Freiheit und Demokratie zu sein – das war es, was die Demonstranten einte, obwohl sie für ganz unterschiedliche Gruppierungen und Interessen standen.

Da waren Ausreisewillige, Umweltschützer, Menschen- und Bürgerrechtler, Pazifisten, Wehrdienstverweigerer oder einfach Menschen, die ihren eigenen Kopf hatten. Da waren auch evangelische Pfarrer und Kirchenvorstände, die all diesen Gruppen in ihren Kirchen Raum für offene Diskussionen boten.

Zugleich schufen sie damit Räume, in denen die Idee der Freiheit wachsen konnte. Und es wuchs und wuchs die Überzeugung: „Die oben können die Freiheit unterdrücken. Aber unseren Wunsch nach Freiheit können sie uns nicht verbieten.“

Und noch etwas wuchs dort heran. Es entstand eine Gemeinschaft, die geeint war in dem Gefühl, dass es ihnen und der schweigenden Mehrheit ihrer Mitbürger in einem freien Land besser gehen würde. Es ging ihnen nicht um Macht für sich selbst, sondern um Freiheit für alle. Dieser Wunsch nach Freiheit war so stark, dass die selbstermächtigten Bürger ihre Angst überwanden und damit auch die SED und die Stasi, die Mauer und die Sowjetmacht. Damit aber war die Friedliche Revolution noch lange nicht beendet. An vielen Runden Tischen begannen die Bürger damit, ihr Land zu demokratisieren. Denn sie hatten dafür demonstriert, dass jeder sein Leben, seinen Staat, seine Gesellschaft in die eigenen Hände nehmen darf, um sie gemeinsam mit anderen zu gestalten.

Meine Damen und Herren, dieser Wunsch nach Freiheit und der nicht immer friedliche Kampf dafür ist eine europäische Erfahrung. Dafür stehen die Gäste des heutigen Abends, die Staatspräsidenten von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. All diese Länder waren wie die DDR Teil des sowjetischen Imperiums. Mutige Menschen in diesen Ländern haben in immer neuen Anläufen dieses Imperium zum Wanken und schließlich zum Einsturz gebracht.

Ihre Länder haben sich vor 24 Jahren zur Visegrád-Gruppe zusammengeschlossen, um die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gemeinsam zu meistern. Sie handeln dabei im Geist der Freiheitlichkeit und Brüderlichkeit.

Überall dort, wo die Bürger Europas in diesem Geist gemeinsam anpacken, wird Europa gelebt. Denn ein guter Europäer handelt selbst, statt alles nur von Brüssel zu erwarten und alles, was nicht funktioniert, auf Brüssel zu schieben. Nur leider müssen wir feststellen: Unter den Europäern greift die Europaskepsis um sich. Und nicht nur das: Auch die Zustimmung zur Demokratie ist schon lange nicht mehr so hoch, wie sie es noch 1989/90 war, als wir Bürger endlich frei und demokratisch leben durften.

Damals war die Demokratie eine Verheißung. Heute sehen viele nur die Mühen der Ebene. Es erscheint vielen von uns oft zu mühsam zu sein, selbst anzupacken bei der demokratischen Gestaltung von Staat und Gesellschaft.

Der Geist der Gemeinschaft, die sich für ein gemeinsames Ziel einsetzt, scheint sich verflüchtigt zu haben. Viele, zu viele gehen nicht einmal zur Wahl. Leider auch hier in Sachsen, im Mutterland der Friedlichen Revolution. Bei der letzten Landtagswahl im August gingen weniger als die Hälfte der wahlberechtigten Bürger zur Wahl.

Ich bin als Demokrat und Ministerpräsident dieses Landes traurig darüber. Ich frage mich schon: Was mag wohl einer der 70.000 empfinden, die vor 25 Jahren unter Einschluss aller Gefahren für die Freiheit auf den Leipziger Ring gingen? Und ich sehe: Rings um uns in der Welt riskieren mutige Menschen Gesundheit und Leben, um Diktaturen zu stürzen und frei leben zu können.

In diesen Tagen bewegen uns zum Beispiel die Nachrichten aus Hongkong. Viele Chinesen gäben eine Menge dafür, frei wählen zu können, so wie wir es können. Und bei uns werfen mehr als die Hälfte der Bürger ihr Wahlrecht weg!

Mein Wunsch ist heute deshalb, dass es uns gelingt, in viel mehr Herzen und Köpfen wieder den Freiheitswillen zu wecken und das Streben danach, Staat und Gesellschaft demokratisch mitzugestalten, also Verantwortung zu übernehmen.

500 Millionen Europäer leben in einem einzigartigen Raum der Freiheit. Woran es oftmals fehlt, das ist der Geist der Gemeinschaft und Brüderlichkeit. Sorgen wir Demokraten dafür, dass dieser Geist wieder in die Herzen und Köpfe einzieht. Begeistern wir unsere Mitbürger dafür, all jene Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung zu nutzen, für die im Herbst 1989 Hunderttausende eine Revolution gemacht haben.
Mögen wir also an diesem Gedenktag neue Kraft schöpfen für die Aufgabe, unsere Demokratie aktiv mitzugestalten. Und möge es uns gelingen, wieder mehr unserer Mitbürger für das demokratische Mittun zu gewinnen.

Vielen Dank!


Kontakt

Sächsische Staatskanzlei

Regierungssprecher Ralph Schreiber
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