Ministerpräsidenten Biedenkopf und Stoiber fordern in gemeinsamen Positionspapier Strukturreform der ARD
28.01.1995, 00:00 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell)
11. Mit der Beibehaltung des heutigen ARD-Vollprogramms und der Reduktion der Dritten Programme würde neben dem ZDF auch in Zukunft ein weiteres nationales Programm angeboten und dies zu Lasten der heutigen Dritten Programme, also der Vielfalt.
Das bereits vorhandene Ungleichgewicht zwischen Einheit und Vielfalt würde sich in diesem Falle zu Lasten der Vielfalt weiter verstärken. Die finanziellen Begrenzungen des öffentlich-rechtlichen Bereichs würden tendenziell die zentralen Programme begünstigen und die Regionalangebote benachteiligen. Sie würden damit die ohnehin bestehende Konzentration im Bereich der ARD weiter verstärken. Zugleich würde die Meinungsvielfalt im öffentlich-rechtlichen Bereich reduziert.
Entscheidet man sich dagegen für eine Neustrukturierung der ARD mit dem Ziel, die tragende Rolle der Landesrundfunkanstalten wieder herzustellen und der Arbeitsgemeinschaft erneut die Rolle einer dienenden Organisation zuzuweisen, so liefe dies im Ergebnis darauf hinaus, auf ein zweites nationales Vollprogramm neben dem des ZDF zu verzichten. Der Vielfalt der Regionalprogramme würde der Vorzug vor der Dominanz des ARD-Vollprogramms gegeben. Dem Grundsatz der Meinungsvielfalt würde damit ebenso Rechnung getragen wie dem Gebot der Gleichgewichtigkeit von Einheit und Vielfalt.
12. Wir sind überzeugt, daß prinzipiell nur die zweite Alternative geeignet ist, sowohl der Verwirklichung der ordnungspolitischen Grundsätze im öffentlich-rechtlichen Bereich wie den Notwendigkeiten und Grenzen seiner Finanzierung zu entsprechen. Wir halten eine Reform der ARD mit diesem Ziel deshalb für unverzichtbar.
Wir würden eine Verständigung darüber begrüßen, daß die inzwischen begonnenen Verhandlungen über die Novellierung der Rundfunkstaatsvertrages zum Anlaß genommen werden sollten, zugleich über die Strukturreform der ARD zu beraten und zu beschließen. Schon angesichts der finanziellen Situation des öffentlich-rechtlichen Bereichs verträgt der Gegenstand keinen weiteren Aufschub.
13. Die Verwirklichung einer ausgewogenen Vielfalt setzt voraus, daß die Landesanstalten annähernd gleich leistungsstark sind.
Übermäßige Ungleichgewichtigkeiten unter den Landesanstalten begründen Abhängigkeiten zwischen den starken und den schwachen Anstalten, die weder mit dem Gedanken der Vielfalt, noch mit der Notwendigkeit von Wettbewerb vereinbar sind. Mehrere Länder haben dem mit der Bildung von Mehrländeranstalten (NDR, mdr) bereits Rechnung getragen.
Im Zuge einer Neuordnung der ARD erscheinen weitere Zusammenschlüsse bestehender Anstalten erforderlich. Ziel muß es sein, zu einer ausgewogenen Größen-Struktur zu gelangen. Die Anstalten sollten auf Grund ihrer Größe und Finanzkraft in der Lage sein, ihre Aufgaben ohne Zuschüsse aus einem horizontalen Finanzausgleich zu finanzieren. Auf keinen Fall sollten Anstalten, die dauerhaft auf Zuschüsse angewiesen sind, langfristig weiterbestehen oder neu gegründet werden. Letzteres ist bereits Beschlußlage der MPK.
14. Der gegenwärtig in der ARD praktizierte Finanzausgleich widerspricht dem Prinzip des Wettbewerbs im System. Er beeinträchtigt das angesichts vorwiegend öffentlicher Finanzierung notwendige Kostenbewußtsein und erzeugt Abhängigkeiten zu Lasten der kleineren Anstalten.
Wir halten deshalb eine Abschaffung des derzeitigen Finanzausgleichs für unverzichtbar. Sie sollte auch die Möglichkeit einer vollständigen oder teilweisen Regionalisierung der Rundfunkgebühren in ihre Überlegungen einbeziehen. Das Kostenbewußtsein der Landesanstalten wird nur gestärkt werden können, wenn ein engerer Zusammenhang zwischen den Gebühren als Leistungsentgelt und dem Aufwand der jeweiligen Landesanstalt hergestellt werden kann. Der Umstand, daß als Folge in verschiedenen Sendegebieten unterschiedliche Gebühren anfallen könnten, sollte kein Hinderungsgrund sein. Unterschiedliche öffentliche Gebühren als Folge unterschiedlicher Leistungsfähigkeit sind auch in anderen Bereichen durchaus üblich.
15. Die gegenwärtige Struktur der ARD in ihrer faktisch-korporativen Verfassung widerspricht den grundlegenden öffentlich-rechtlichen Prinzipien der Intendanten-Verantwortung und der Kontrolle durch die gesellschaftlich relevanten Kräfte.
De jure verfügt die ARD über keine eigenständige Befugnis, Programmverantwortung wahrzunehmen. Die Programmverantwortung liegt vielmehr bei den einzelnen Intendanten der Landesrundfunkanstalten, in deren Sendegebiet das ARD-Gemeinschaftsprogramm ausgestrahlt wird.
Die Ungleichgewichte innerhalb der ARD haben zu einem Geflecht von Abhängigkeiten und Beziehungen geführt, die den Satz 1 der Ziffer 6 der Verwaltungsvereinbarung der Landesrundfunkanstalten über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Fernsehens - "Fernsehvertrag" ("Jede Rundfunkanstalt ist berechtigt, auf die Ausstrahlung von Teilen des Fernsehgemeinschaftsprogramms zu verzichten und es insoweit durch einen eigenen Beitrag zu ersetzen") faktisch außer Kraft gesetzt haben und allenfalls auf gravierendste Ausnahmefälle beschränken.
Diese faktische Konzernabhängigkeit in der Programmgestaltung unterminiert die effektive Wahrnehmung der Programmverantwortung durch die Intendanten und gleichermaßen die effektive Programmkontrolle durch die Vertreter der gesellschaftlich relevanten Kräfte in den Rundfunkräten der einzelnen Anstalten. Der verantwortliche Ansprechpartner des Rundfunkrats einer Landesfunkanstalt ist deren Intendant, nicht etwa der Intendant desjenigen Senders, der einen bestimmten Beitrag in der Gemeinschaftsprogramm eingebracht hat. Die Verantwortlichkeit für das Programm und die tatsächliche Gestaltungsmöglichkeit sind damit nicht mehr deckungsgleich. Dies bedeutet, daß Rundfunkräte sich zwar kritisch mit Programmbeiträgen anderer ARD-Anstalten befassen können, daß sie aber Programmverantwortung nicht effektiv einfordern und demnach auch ihren Auftrag, die Interessen der Allgemeinheit auf dem Gebiet des Rundfunks zu wahren, nicht voll erfüllen können. Entscheidende Anforderungen der Verfassung an die Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind damit an den Rand gedrängt.
Ziel der Strukturreform der ARD muß es demnach auch sein, aus fiktiven Programmverantwortlichkeiten wieder effektive zu machen und die Wirkungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Repräsentanz in den Aufsichtsgremien wieder voll herzustellen.
16. Eine weitere Zusammenarbeit der Landesanstalten im Rahmen einer reformierten ARD widerspricht nicht dem Grundsatz der Vielfalt. Voraussetzung ist jedoch, daß ein entsprechendes Netzwerk (network) die tatsächliche Unabhängigkeit der Anstalten respektiert, also den Wettbewerb nicht wesentlich beschränkt oder beseitigt.
Selbst wenn die ARD als solche kein eigenes Vollprogramm anbieten soll, kann es sinnvoll sein, auf einzelnen Programmplätzen oder bei bestimmten Projekten und Aufgaben zusammenzuarbeiten und dadurch Synergieeffekte auszuschöpfen. Dazu gehört auch der regelmäßige Austausch von Programmteilen.
Entscheidend ist, daß aus der Kooperation keine Korporation werden kann. Die zentrale Wahrnehmung von Aufgaben darf nicht im Ergebnis zu dauerhaften Selbständigkeitsverlusten bei den Landesanstalten als den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft führen. Bindungen innerhalb des Systems müssen deshalb, auch wenn sie langfristig angelegt sind, für die einzelne Anstalt disponibel bleiben.
Auch eine längerfristige Zusammenarbeit und die daraus resultierenden Koordinationsbedürfnisse rechtfertigen, unter Wettbewerbsgesichtspunkten, keine dauerhaften Bindungen an zentralisierte Entscheidungsmechanismen. Bindungen der Art, wie sie im derzeitigen System bestehen und ohne Kündigung des ganzen Systems praktisch nicht auflösbar sind, sind mit den Strukturprinzipien Vielfalt und Wettbewerb nicht vereinbar. Sie führen zu faktischen Machtpositionen, die der Offenheit der Medienlandschaft ebenso widersprechen wie dem Grundsatz der Meinungsvielfalt.
Dresden, den 17. 1. 1995