Einschnitte, Aufbrüche, Perspektivwechsel - Forscher aus vier Instituten beleuchten die Zeit der Veränderung nach 1989
03.04.2020, 12:00 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell)
Neuer Projektverbund erforscht die multiplen Transformationen seit 1989 in der Lausitz, Sachsen, Ostdeutschland und Ostmitteleuropa
Die »Friedlichen Revolutionen« in der DDR und den Staaten Ostmitteleuropas sowie die
Wiedervereinigung Deutschlands vor rund 30 Jahren bedeuteten eine historische Zäsur,
deren Folgen bis heute nachwirken. Neben den systemischen Veränderungen in Politik,
Kultur, Wirtschaft und Recht stellten die Auflösung und das Ende der staatssozialistischen
Alltagswelt eine einschneidende biografische Erfahrung für viele Menschen dar. In den
neuen Bundesländern wie in Ostmitteleuropa ging damit die Notwendigkeit einer
Umstellung auf neue gesellschaftliche Anforderungen, Freiheiten und Zwänge einher, die in
ganz unterschiedlicher Weise – als Chance, als Niederlage oder als Notwendigkeit –
bewältigt wurde. Die frühe Nachwendezeit war einerseits geprägt von Aufbruchseuphorie,
Freiheitsrhetorik und der Freude über neu gewonnene persönliche wie auch politische
Entfaltungsmöglichkeiten. Andererseits bestimmten Erschütterung über die »Abwicklung«
der volkseigenen Betriebe sowie die rasche Etablierung kapitalistischer Strukturen und die
massenhaften »Privatisierungen« nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens. Der Wandel bot genauso Konsumverheißungen und neue kulturelle Handlungsspielräume, wie ihm auch
Anpassungsschwierigkeiten und Unsicherheiten folgten, die die Lebensentwürfe und
Erwerbsbiographien weiter Teile der Bevölkerung betrafen. Die langfristigen Folgen von
Entfremdung, Entsolidarisierung und sozialer Spaltung beschäftigen uns noch heute.
Vor diesem Hintergrund haben sich vier in Sachsen ansässige außeruniversitäre
Forschungsinstitute im Projektverbund »Multiple Transformationen. Gesellschaftliche
Erfahrung und kultureller Wandel in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa vor und nach
1989« zusammengeschlossen. Seit Anfang Februar 2020 erforschen vier
WissenschaftlerInnen den Umbruch von 1989 sowie die Folgeerscheinungen des
Transformationsprozesses in transdisziplinärer Perspektive in Deutschland und seinen
ostmitteleuropäischen Nachbarländern. Im Fokus stehen zentrale Handlungs- und
Bewältigungsstrategien (Aufmerksamkeitswandel, neue Vergemeinschaftungsformen,
Freiwilligkeit und kulturelle Inwertsetzung), an denen sich die vielgestaltigen
Verschränkungen von lebensweltlich-sozialem, künstlerisch-kulturellem und ökonomischem
Wandel in den vier Untersuchungsregionen (Lausitz, Sachsen, Ostdeutschland und
Ostmitteleuropa) zäsurübergreifend aufzeigen lassen. Die einzelnen Projekte werden auf
einer heterogenen, breiten Methoden- und Quellenbasis realisiert: durch Experten- und
lebensgeschichtliche Interviews, teilnehmende Beobachtungen, Auswertung schriftlicher,
und (audio-)visueller Quellen aus Archiven, privaten Sammlungen und Museen, durch
Analyse von Massen- und Sozialen Medien, von populärer oder von Bildender Kunst.
Dr. Theresa Jacobs vom Serbski institut/Sorbischen Institut (SI) in Bautzen widmet sich der
sorbischen Kultur- und Kreativwirtschaft in der Transformation. Sie untersucht die
Bedeutung kulturellen Erbes zwischen ethnischer Selbstvergewisserung und ökonomischer
Inwertsetzung bei der sorbischen Minderheit. Oliver Wurzbacher vom Institut für Sächsische
Geschichte und Volkskunde (ISGV) in Dresden, das gleichzeitig die Koordination des
Projektverbundes innehat, wendet sich Vereinigungen zu, die sich im Anschluss an das Ende der ehemaligen DDR-Betriebskollektive gegründet haben. Unter dem Begriff des »sozialen Erbes« wird er erforschen, wie Aspekte der damaligen Arbeit traditionalisiert wurden und neue Formen der Vergemeinschaftung entstanden. Freiwilligkeit und Fürsorge in der Transformation ist das Thema von Dr. Maren Hachmeister vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) in Dresden. Lokales Engagement wird vergleichend im
Dreiländereck untersucht. Dr. Beáta Hock vom Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des
östlichen Europa (GWZO) in Leipzig untersucht den Aufmerksamkeitswandel für die »Kunst
im Osten«. Hierbei stehen Transformationen der Kunstförderung und der kulturellen
Infrastruktur seit den späten 1980er-Jahren im Fokus.
Der Projektverbund wird vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und
Tourismus mit mehr als 900.000 Euro gefördert.
Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow betont: »Die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte sowie den Lebensbrüchen und grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen nicht nur hierzulande trägt dazu bei Zusammenhänge und auch individuelle Lebenswege besser zu verstehen. Die Forschungen fördern sicherlich neue spannende Erkenntnisse zu Tage. Ich wünsche den Projektbeteiligten viel Erfolg!«
Die Ergebnisse werden projektbezogen in unterschiedlichen Formaten wie Vorträgen, Aufsätzen, Monografien und (Foto-)Ausstellungen publiziert. Weiterhin sind für die kommenden drei Jahre regelmäßige Workshops zum interdisziplinären Austausch
sowie für das letzte Jahr (2022) eine internationale Abschlusskonferenz zur Präsentation der
Ergebnisse geplant.
Ansprechpartnerin des Projektverbunds: PD Dr. Ira Spieker, Leiterin des Bereiches
Volkskunde/Kulturanthropologie am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in
Dresden
Kontakt: ira.spieker@mailbox.tu-dresden.de